Stress – gestern und heute: Wie meistere ich mein Leben? (Teil 1)

Der heutige berufstätige Mensch steht unter Leistungsdruck und Leistungszwang. Früh oder spät kommt der Augenblick, in dem Müdigkeit und Nervosität den sonst gesunden und ausgeglichenen Menschen befallen. Plötzlich wird alles zu viel, was auf einen zukommt. Man hat nur noch den einen Wunsch, ausspannen zu können und alles hinter sich zu lassen. Diese Situation nennen wir kurz: Stress. Der Name Stress stammt aus dem Englischen und bedeutet ursprünglich Anspannung, Verzerrung, Verbiegung auf dem Gebiet der Materialprüfung. In der Biologie wurde diese Bezeichnung 1950 durch den ungarisch-kanadischen Mediziner Hans Selye eingeführt. Er meint damit etwas sehr Verwandtes: nämlich Belastungen, Anstrengungen und Ärgernisse, denen Lebewesen – auch Tiere – durch Lärm, Hetze, Schmerz, Angst und vieles andere ausgesetzt sind.

Der Stress mit allen seinen Erscheinungen ist bei weiteren medizinischen Forschungen als natürlicher Verteidigungsmechanismus der höheren Lebewesen dieser Erde anzusehen. Diesen Verteidigungsmechanismus hat es immer gegeben, auch schon vor vielen tausend Jahren. Der Stresszustand ist also eine positive, körperliche Leistung.

Wie funktioniert dieser körperliche Verteidigungsmechanismus? Man stellt sich diesen heute so vor: Die Wahrnehmung, zum Beispiel über das Gehör oder das Auge, stellt etwas Ungewöhnliches fest – vielleicht ein plötzliches Knacken im Gebüsch oder ein wildes Tier in unmittelbarer Nähe, sofort läuft diese Wahrnehmung als Impuls zum Gehirn in die Region des Zwischenhirns, der Zentrale des vegetativen Nervensystems. Dort wird Angst signalisiert. Von dort geht die Erregung weiter zum Sympathikus, der die Nebenniere aktiviert. Nun wird vom Nebennierenmark Adrenalin und Noradrenalin in den Kreislauf ausgeschüttet. Diese Hormone erhöhen den Blutdruck und beschleunigen den Herzschlag. Zucker- und Fettreserven gehen über die Blutbahn in die Muskulatur, was die Muskulatur schlagartig zu einer Hochleistung befähigt. Über die Hypophyse wird inzwischen ein weiteres Hormon, das Adrenocorticotropin (ACTH), zur Nebenniere abgesandt, woraufhin sie nun das Hydrocortison in die Blutbahn abgibt. Dieses Hormon sorgt jetzt dafür, dass Verdauungsprozesse und Sexualfunktionen ausgeschaltet werden. Auch die Schalter des Gehirnes werden blockiert, damit keine zeitraubenden Überlegungen angestellt werden. Die ganze Körperenergie konzentriert sich auf eventuelle Verteidigung oder auf Flucht (fight or flight).

Die Arterien erfahren dabei einen ganz besonders hohen Blutreichtum, damit der Körper mehr Sauerstoff bekommt und Kohlensäure abgeben kann. Auch die Blutgerinnungsfaktoren sind spontan angestiegen, damit sich eventuelle Wunden bei Verletzungen schneller schließen.

Alle diese Funktionen sind eine ganz wunderbare Einrichtung der Natur zum Schutz des Lebens, die wir heute noch besitzen. Daran hat sich nichts geändert. Geändert hat sich aber unsere Lebensweise, weil wir nicht mehr in freier Wildbahn leben. Wir können also diesen gut gemeinten Stressmechanismus nicht mehr verwerten, obwohl wir tausenderlei Ängsten ausgesetzt sind – und das ist das Verhängnisvolle des heutigen zivilisierten Menschen in Bezug auf seine körperliche und seelische Gesundheit. Die häufig anzutreffende Nervosität der Menschen hängt mit dem Stress eng zusammen.

Was versteht man unter nervös? Zum besseren Verständnis wollen wir kurz die Einteilung und die Funktion unseres Nervensystems beleuchten. Wir unterscheiden zwei Arten von Nervensystemen: erstens das bewusste oder motorische Nervensystem, das unserem Willen unterlegen ist, zum Beispiel Muskelbewegungen beim Gehen, und zweitens das vegetative oder autonome Nervensystem. Es steuert unsere Organ- und Stoffwechselfunktionen ohne unser bewusstes Zutun. Das bewusste Nervensystem wird von der Großhirnrinde aus gesteuert. Das vegetative Nervensystem hat im Stammhirn und den verschiedenen Nervengeflechten entlang der Wirbelsäule seine Zentren und Schaltstellen. Globale Regulation des unbewussten Nervensystem findet im Hypothalamus, dem unteren Teil des Zwischenhirnes statt. Das vegetative Nervensystem umspinnt mit feinsten Fasern jedes Organ, jedes Blutgefäß und jede Drüse. So ist es auch erklärlich, dass jeder Reiz von außen – aber auch seelischer Stress – vom vegetativen Nervensystem sofort aufgenommen und vom Organismus entsprechend verarbeitet wird. Das vegetative Nervensystem funktioniert also ohne unser Zutun.

Die Atmung zum Beispiel wird ebenfalls automatisch gesteuert. Die Atmung wird schneller und tiefer, wenn der Organismus mehr Sauerstoff bei körperlicher Bewegung benötigt oder sich in sauerstoffarmer Luft befindet. Es ist aber bekannt, dass die Atmung auch willentlich gesteuert werden kann, und das hat ihr zu einer wichtigen Sonderstellung verholfen.

Wir unterscheiden beim vegetativen Nervensystem einen sympathischen und einen parasympathischen oder Vagus-Anteil. Von beiden Anteilen dieses vegetativen Nervensystems werden alle unsere Organfunktionen geregelt.

Der sympathische Anteil sorgt für gesteigerte Aktivität, Erregung, bessere Durchblutung. Die Herztätigkeit wird durch die Erregung des Sympathikus gesteigert, der Puls beschleunigt. Der sogenannte Sympathikotoniker (in der Mazdaznan-Terminologie bezeichnet man solche Menschen als „elektrisch“) – also der Mensch, bei dem dieser Teil des vegetativen Nervensystems in den Vordergrund tritt – ist der lebhafte, aktive, dynamische Mensch, der in kurzer Zeit viel erreichen möchte. Der Blutdruck neigt bei diesen leicht erregbaren Sympathikotonikern eher zum Ansteigen, aber auch der Cholesterinspiegel kann im Blut erhöhte Werte aufweisen. Die Blutgerinnungsbereitschaft ist verstärkt. Er kann sich schwer entspannen.

Eine Reizung des Nervus Vagus (des 10. Hirnnervs) hat zum Beispiel eine Verlangsamung des Pulses und der Herztätigkeit zur Folge. Der Vagotoniker, der sogenannte „magnetische“ Typ, ist der scheinbar ruhigere, überlegtere, weniger ehrgeizige Typ, deshalb auch dem Stress weniger ausgeliefert. Er neigt eher zu Magen-Darm-Beschwerden und zu chronischen Entzündungen und Geschwüren in diesem Bereich – auch zu chronischer Verstopfung.

Es gibt bei dieser Einteilung auch viele Mischtypen des vegetativen Nervensystems. Das vegetative Nervensystem stellt also über unsere Sinnesorgane die Vermittlung zwischen der Außenwelt und dem Organismus her. Je feiner unser Nervensystem ist, je sensibler unsere Empfangsorgane, desto mehr nehmen wir wahr, desto mehr haben wir zu verarbeiten, was die Außenwelt uns anbietet.

Wir haben vernommen, dass bei einem plötzlichen Anspannungszustand über das vegetative Nervensystem und unsere Drüsen mit innerer Sekretion der Herzschlag schneller wird, der Puls sich beschleunigt, der Blutdruck klettert – ein Beweis, dass hier der Sympathikus seine Signale gegeben hat. Nun sind außerdem auch noch die Blutfettwerte und der Blutzuckerspiegel angestiegen, denn das ausgeschüttete Adrenalin hat für deren Mobilisierung aus den verschiedenen Depots gesorgt.

Auch die vielen unterschwelligen Reize, denen wir heutzutage ausgesetzt sind, halten den Stoffwechsel ständig mobil, ständig in einem gewissen Alarmzustand, wenn auch abgeschwächt. Die heutige Zivilisation sorgt für eine Summation zahlreicher unterschwelliger Reize oder Stressoren. Oft sind es rein seelisch-geistige Vorgänge, die im Körper als materielle Vorgänge gemessen werden können. Die Stoffwechselabläufe sind aber die gleichen wie bei großem Schreck; der Körper reagiert genauso, wenn auch weniger augenscheinlich, das heißt abgeschwächt. In unserem Körperhaushalt hat sich also nichts geändert.

Im Unterschied zu heute aber konnten sich die Menschen damals nach einer Anspannung abreagieren. Sie konnten durch Flucht oder Angriff, das heißt durch schnelle Bewegung den Körperenergieeinsatz umsetzen. Die Muskulatur konnte durch ihren Bewegungseinsatz das angebotene Glykogen – das heißt den Zucker – verbrennen und in Energie umwandeln. Die über das Blut angebotenen Fettsäuren wurden verwertet und abgebaut.

Doch was tun wir heute? Wir fliehen nicht, wir rennen nicht los, wir atmen nicht einmal tüchtig aus, indem wir wie das Kind schreien. Im Gegenteil: Wir spannen uns weiter an, wir bleiben stumm und still und bewegungslos. Für unsere Umgebung werden wir trotzdem unerträglich. Was passiert nun in unserem Innern? Die mobilisierten Brennstoffe müssen ja irgendwohin!

Die Fettsäuren wandeln sich in Cholesterin um und werden in die Gefäßwände eingebaut – die Grundlage der Arterienverkalkung (Arteriosklerose). Die Verschiebung des Hormonhaushaltes sorgt für Störungen im vegetativen Nervensystem. Das Infarktrisiko ist gesteigert. Unterdrückte Aggressionen und Nervosität regen den Magen zu erhöhter Salzsäureproduktion an. Der Magen-Darm-Trakt verkrampft sich. Die Bereitschaft zum Geschwür liegt vor.

Nehmen wir als Beispiel etwas aus der Hektik des Alltags, zum Beispiel das Autofahren im dichten Straßenverkehr. Vom Autofahrer wird hier vom vegetativen Nervensystem Schwerarbeit abverlangt, aber die Umsetzung der Energien wird verhindert. Der Autofahrer ist genötigt, unsaubere, sauerstoffarme Luft – entstanden durch Auspuffgase und kleinste Staubteilchen – einzuatmen. Auspuffgase enthalten Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe und feinste Rußpartikel. Dazu kommt noch bei Rauchern das Nikotin, das ebenfalls zu den Atemgiften zahlt. Das Mineralgleichgewicht wird durch Sauerstoffmangel gestört, sodass der Arterienverkalkung und anderen Leiden die Wege geebnet werden. Für die Kontraktion des Herzmuskels ist zum Beispiel das elektrolytische Mineralgleichgewicht zwischen Kalium, Magnesium und Natrium sehr wichtig. Bei Sauerstoffmangel wird dieses Gleichgewicht gestört. Aber gerade bei Stress hat die Herzmuskulatur einen großen Sauerstoffbedarf. Der Anstieg des Kohlenmonoxidgehaltes im Blut bei Autofahrern führt zu einem erhöhten Infarktrisiko – festgestellt bei großen Testversuchen im dichten Straßenverkehr von Los Angeles.

Die Adrenalinausschüttung ins Blut über den Sympathikus steigert den Sauerstoffbedarf, der bei dieser schlechten Luft nicht angeboten werden kann. So kann es zu schweren Stoffwechsel- und Kreislaufschäden kommen. Menschen, die Corticoidhormone einnehmen, wie sie ja die Schulmedizin zum Beispiel bei Rheuma, Allergien und anderen Entzündungskrankheiten üblicherweise verordnet, sind dabei besonders gefährdet, weil dadurch der Nebennierenhormonspiegel im Blut noch höher wird als beim Stress. So wird der Sauerstoffbedarf ebenfalls höher und somit die Gefahr einer akuten Herzschädigung. Hinzu kommt die Bewegungsarmut des Autofahrers, Lärmbelästigung durch Motorengeräusche und lautes Hupen, überstarke Lichtreize durch Scheinwerfer, die manchmal nicht abgeblendet werden oder schlecht eingestellt sind. Das Autofahren ist also ein Stress, der durch das dauernd unbewegliche Verhalten des Betreffenden am Steuer nicht abreagiert werden kann.

Wir sprachen soeben von starken Lichtreizen. Auch die Lichteinwirkung über unser Auge auf den Sehnerv und weiter bis zur Epiphyse spielt hier eine Rolle. Die Epiphyse – eine kleine, weizenkorngroße Drüse – befindet sich auf dem ins Gehirn einmündenden Rückenmark, etwa in der Mitte des Gehirnes. Die medizinische Wissenschaft hat nun festgestellt, dass diese Drüse für Lichteinwirkungen ein wichtiges Regulationszentrum ist. Wenn Licht auf die Netzhaut fällt, wird auch die Epiphyse über bestimmte Nervenfasern angeregt. Sie schüttet daraufhin ein adrenalinähnliches Hormon ins Blut aus. Dieses von der Epiphyse erzeugte Hormon wird bei Lichteinwirkung ausgeschüttet. Bei eintretender Dunkelheit geht es in Serotonin und Melatonin über, Hormone, die den Schlaf begünstigen. Man hat also in der Epiphyse eine schlaf-wach-steuernde Wirkung festgestellt.

Man kann sich nun aber hier gut vorstellen, dass Lichtreize – vor allem künstliches Licht – bei langem Wachsein die Epiphyse zur adrenalinartigen Ausschüttung stimulieren, was letztlich zu einer erhöhten Stresswirkung und erhöhter Aktivität sowie zu Schlafstörungen führen kann. Ein tiefer Schlaf ist zum Stressabbau ebenfalls notwendig. Je zivilisierter aber unsere Welt wurde, desto schlaffeindlicher zeigte sie sich, denn unsere modernen Unterhaltungseinrichtungen (Fernsehen, Computer, Smartphone, Radio etc.) sorgen dafür, dass viele sich nicht rechtzeitig zum Schlafen zurückziehen. Häufige Schlafstörungen durch Lärm und Licht bedeuten einen Angriff auf unser Erholungsrecht. Die Schlafbereitschaft kommt auch oft durch Übermüdung nicht zustande. Man findet am nächsten Tag nach Schlafstörungen eine erhöhte Ausscheidung von Nebennierenhormonen, und der Mensch befindet sich in einem erhöhten vegetativen Erregungszustand.

Obwohl die Betroffenen noch nicht direkt an dauernden Schlafstörungen leiden, greifen viele doch schon zu Schlafmitteln, anstatt die Ursachen zu meiden. Nun wird der Mensch langsam, aber sicher schlaftablettenabhängig, was im Grunde die Schlafstörungen noch vertieft. Wissenschaftler haben festgestellt, dass man bei Versuchspersonen mit gesundem Schlaf innerhalb von acht Tagen durch Schlaftabletten einen natürlichen Schlaf in chronische Schlaflosigkeit umwandeln kann. Stärkere Mittel sind dann erforderlich, bis auch diese nichts mehr nützen.

So wird ein großer Teil der Schlafgestörten zur Tablettensucht mit allen Nebenwirkungen gebracht – anstatt zu einer natürlichen Lebensweise. Der Schlaf-wach-Rhythmus führt uns in einen biologischen Rhythmus hinein, zwischen dem Wachsein, einer Energieentfaltung, und dem Schlaf, einer Sammlung und Ruhe nach innen.

Vortrag von Frau Dr. med. Elisabeth Begoihn (1977), bearbeitet von Jens Trautwein.
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