Der Gedanke der Frühlingszeit, des Berstens der Knospen und der Samenspelzen, das Hervorkommen der Blüten und Blumen erinnert uns immer wieder an das Entknospen und Erblühen unseres eigenen Wesens, des Gesinnes, der Seele und des Geistes und an das Aufleuchten des Gottesfunkens in unserem Inneren, wodurch zum Ausdruck kommt, dass sich jedes Teilchen der in uns verkörperten Substanz, die den unendlich weiten Bereich unserer Seele erfüllt, der Auferstehung des Gottgedankens im menschlichen Herzen erfreut. Deshalb feiern wir am Oster- oder Auferstehungstage vom Aufgang der Sonne im fernen Osten bis zu ihrem Untergang im fernen Westen die Auferstehung Christi oder das Erscheinen des neuen Menschen, der die Neuordnung der Dinge verwirklicht.
Der Gedanke der Winterszeit oder der inneren Gestaltung des Kindes erlebt nun am Auferstehungstage die Wiedergeburt. Das Kind ist zwar in der vorgeburtlichen Zeit mit allen göttlichen Eigenschaften des menschlichen Wesens ausgestattet worden, erkennt sie aber nicht infolge der Mächte der Finsternis, die um die Erde schweben, und lebt sozusagen für eine Zeit oder Jahreszeit im Ruhestand. Das Menschenkind muss aber die Reiche der Finsternis durchschreiten, um dadurch gegen die Finsternis selbst Zeugnis abzulegen und seinen Irrtum und das Verirren ein für allemal hinter sich zu lassen.
Denn innerhalb der Tore der Finsternis zu bleiben, liegt nicht in der Absicht des Fortschrittes. Vielmehr ist das Ziel des Fortschrittes, dass aus der im finsteren Schlummerzustand liegenden Menschheit der vollkommene Mensch hervortritt, der sich seiner göttlichen Eigenschaften bewusst ist, der die größeren Möglichkeiten einer höheren Wirksamkeit auf höheren Stufen und aufgrund höherer Kenntnisse und Fähigkeiten erkennt und vor sich die Himmelsleiter sieht, die ihm den Aufstieg bis zum Throne des Allmächtigen ermöglicht. In diesem vollkommenen Menschen ist Christus oder Chrystos, der Erneuerungsgedanke, nun auferstanden.
Deshalb ist Ostern einer der größten Feiertage in unserem Kalender, an dem jede Seele, wenn sie es wünscht und sich dazu von der Geisteskraft im Herzen angetrieben fühlt, sich aus der Finsternis erheben, von der Stätte der dahinsterbenden Menschheit, des Aberglaubens, der Unwissenheit und der Selbsttäuschung loslösen und in einem neuen Kleide, dem Frühlingskleide, das mit allen Möglichkeiten der neuen Jahreszeit ausgestattet ist, hervortreten soll.
Wir haben allen Grund uns zu freuen und zu jubilieren an diesem Festtage, weil wir uns durch den Erneuerungs- oder Auferstehungsgedanken in Verbindung bringen mit den großen Denkern aller vergangenen Zeitalter und auch mit den gegenwärtig auf Erden wandelnden und sogar mit den nach uns kommenden. Wir haben allen Grund, uns über diesen Zustand der Verbundenheit und der Erkenntnis zu freuen, weil wir uns bewusst geworden sind, dass größere Möglichkeiten vor uns liegen.
Deshalb sollten wir unsere Stimmen und Herzenswünsche mit den Stimmen und Herzenswünschen aller derer vereinen, die sich ebenfalls zu dem aufschwingen, der auferstanden ist und fortfahren wird, in jedem menschlichen Herzen aufzuerstehen, wie es in unserem Liede „Osterglocken" zum Ausdruck kommt:
247. Osterglocken (261)
1. Alleluja, jauchzet heut'! Christ, der Gottmensch lebt erneut!
Er zerbrach Tyrannenmacht, ist zum Leben heut' erwacht.
2. Jede Wiesenblume steht auferweckt schon im Gebet,
Vöglein stimmt voll Jubel ein, Bächlein springt von Stein zu Stein.
3. Knospen bersten im Gezweig, Freud' erfüllt das Ätherreich;
alles warf die Fesseln ab, Harmonie führt nun den Stab.
4. Ich stell' Auferstehung dar und das Leben dir, fürwahr!
Ich hab' freigemacht die Welt, weil ich Freiheit mir erwählt.
Chor: Lass' die Osterglocken hell aller Welt es künden schnell:
"Ich lebe, leb' erneut und wandle frohgemut!"
Und doch fragen manche, selbst unter uns, immer wieder: „Ist Ostern nicht eine kirchliche Einrichtung? Warum sollen wir Ostern mit der Kirche feiern, die doch die Weisungen Christi gar nicht befolgt? Warum sollen wir Ostern mit denen feiern, die den Autoritäten und den autoritären Einrichtungen des Kirchenwesens Gefolgschaft leisten? Warum sollen wir überhaupt noch Ostern als den Tag der Auferstehung besonders feiern, da doch unsere Gedankengänge, Ansichten und Ideen bereits in der Richtung der Vernunft und des Verstandes laufen?
Aber wir feiern Ostern nicht wegen des Kirchen- und Autoritätswesens, sondern wir feiern Ostern, wie wir jeden anderen roten Tag im Kalender und andere große, bedeutende Ereignisse feiern, die uns an den Fortschritt, die Entwicklung und Entfaltung des Menschen und an die Verwirklichung seiner höheren Natur erinnern, damit wir von Zeit zu Zeit, von Jahreszeit zu Jahreszeit, ja, sogar mitten in einer Woche daran erinnert werden, welche Stellung wir gegenüber dem „Rad des Schicksals" einnehmen, indem wir dabei das Vergangene rekapitulieren und uns alles Wertvolle daraus immer wieder vergegenwärtigen, verbinden, vergleichen, erwägen, beurteilen und Schlüsse daraus für unsere künftigen Möglichkeiten ziehen.
Wir feiern Ostern als ein bedeutsames Naturereignis, als den Wendepunkt der Sonne, die wieder ihren Aufstieg in die magnetischen Kreise des Weltenäthers beginnt. In den in der Erde noch schlummernden Samenkörnern regen sich die elektrischen Mächte und Kräfte und bestimmen über die neuen Möglichkeiten des Samens. Es beginnt eine neue Jahreszeit auf der Erde, die östliche oder österliche Zeit, nachdem die nördliche Jahreszeit zu Ende gegangen ist. Die Jahreszeit des Winterschlafes, die Weihnachtszeit, die die Wiege des Schicksals schaukelte, ist vorüber und nun sehen wir alle Mächte und Kräfte der Natur in Tätigkeit, die neue Möglichkeiten offenbaren wollen, die im Samen, im Grashalm, in den Wurzeln und in jedem Dinge der Natur vorhanden sind.
Mit dem Ostertage und dem Beginn der neuen Jahreszeit regt die Sonne durch ihre Strahlen oder die davon ausgehenden elektromagnetischen Kräfte das Leben in der Erde an, die Erde neu einzukleiden, und die Erde kann das, denn der Keim des Lebens ist in jeder Knospe und in jedem Ding enthalten, das unsere Sinne wahrnehmen. Alle magnetischen Kräfte, besonders in den tief gelegenen Tälern, strahlen kräftig aus auf die weit entfernte Magnetnadel des Sonnenkreises, sodass mehr Wärme erzeugt wird.
Deshalb ist der Beginn dieser Jahreszeit mit dem Osterfest gefeiert worden, lange bevor es staatliche, kirchliche oder andere Autoritäten gab. Schon viel früher begriff der Mensch den Wert des Zusammenkommens, des Vereinigens und Vereinbarens. Schon in der vorgeschichtlichen Zeit zog das Denkvermögen des Menschen jeden Wendepunkt der Natur in Betracht und zog daraus Schlüsse für seine eigenen Möglichkeiten. Daher folgte er den Weisungen der Natur instinktiv, zog seine Lehren aus allem, was sich in seiner Umgebung abspielte, und bezog es auf sein eigenes Wesen. Dadurch erhob er sich immer wieder zu neuen Hoffnungen und kleidete sein Denkenswesen in neue Gedankengänge ein.
Sobald die Sonne höher und höher steigt und die magnetischen Kräfte stärker in die Ätherreiche strömen, wird sich auch der Mensch neuer und größerer Möglichkeiten bewusst. Er wird sozusagen von der Erde mit emporgezogen, während sie sich dem Bräutigam des Himmels entgegenstreckt, damit das Band der Verbundenheit zwischen der Erde und dem Menschen nicht getrennt werde.
So kommt uns Ostern, um uns daran zu erinnern, dass wir unseren Gedankengang auf ein neues, höheres Ziel lenken und unseren Körper neu und mehr beleben sollen. Denn wenn wir auch in das Gewand der Sterblichkeit eingekleidet sind, sind wir doch Träger des ewigen Lebens.
Durch diese Erkenntnis wurde der Mensch „die erste Frucht unter den schlummernden Samen", die erste Knospe und Blüte unter all den übrigen Dingen der Natur, die sich ihres höheren Wesens nicht bewusst wurden; sie sind nicht tot, sondern liegen nur im Schlummer.
Freilich, während man schlummert, träumt man die schrecklichsten Träume und benimmt sich schrecklich. Man nachtwandelt, wie es die Somnambulen tun und dabei Schrecken verbreiten, ohne sich ihrer Schrecklichkeit bewusst zu sein. Sie sind nicht zur Erkenntnis ihres wirklichen, inneren Selbst erwacht; das Geistes- und Gottesbewusstsein fehlt ihnen.
Möge von uns gesagt werden, dass ein jeder von uns „die erste Frucht unter den schlummernden Samen" ist! Zu dieser Erkenntnis muss ein jeder von uns für sich selbst kommen. Jeder von uns muss sich mit Hilfe der eigenen Individualität seinen Lebensweg bahnen und dazu muss er die größte Lehre des Lebens lernen, nämlich allein zu stehen, wofür uns der Heiland das leuchtende Beispiel geworden ist.
Der Heiland stand allein im Garten von Gethsemane. Er ging allein durch die Kreuzigung, um zu erkennen: „Es ist vollbracht!" Er bleibt nicht am Kreuze und starb auch nicht am Kreuze. Wenn auch sein Körper für eine Weile in ein Grabgewölbe gelegt wurde, war er doch nicht tot; sondern die Intelligenz in seinem Körper schlummerte nur, bis er erwachte und zu der Erkenntnis kam, dass sich die ganze Menschheit in einem somnambulistischen Zustand befand.
So wurde der Heiland der Konzentrationspunkt für die ganze Menschheit und steht vor der Welt als das Beispiel des vollkommenen Menschen. Er ist tot für die Kirche, tot für den Staat, tot für die Autoritäten und autoritären Institutionen. Aber die Seinen wissen: „Er lebt!" und er lebt weiter im Gesinn aller derer, die er nach sich gezogen hat, wie er es selbst vorausgesagt hat: „Wenn ich erhoben bin zu meinem Abba, der Unendlichkeit, ziehe ich alle die Meinen nach mir."
Möge ein jeder von uns zu denen gehören, die seit unvordenklichen Zeiten vom ewigen Mittelpunkt angezogen worden sind, um den sich das „Rad des Schicksals" dreht, die sich trotz der Einkleidung in die Materie dieses Mittelpunktes und des von ihm ausstrahlenden Lichtes in den innersten Kammern des Herzens bewusst werden und die auf die leise, sanfte Stimme des Herzens achten, durch die die ewigwirkende, unendliche Intelligenz ihren Willen offenbart!
Möge sich ein jeder von uns der Verbundenheit mit Abba, der Unendlichkeit, bewusst werden, bis das Herz im Einklang mit dem Rubinherzen Gottes schlägt, was jedem Menschen verbürgt, dass er „die erste Frucht unter den schlummernden Samen" ist!
Darum feiern wir Ostern.
Auszüge aus: Offenbarungen 1933
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