Jedes Mal, wenn wir (Dr. Hanish verwendet hier für sich selbst die früher gebräuchliche Form des „pluralis majestatisch“) an die Zeit zurückdenken, da wir uns mit dem Problem beschäftigt haben, die Angst zu überwinden, erinnern wir uns an eine Begebenheit, die wir erzählen möchten, um diesen Gegenstand zu illustrieren.
Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder Mensch Gedanken der Furcht unterhält; denn alles, was kollektiver Natur ist, was Kraft und Macht vereinigt, was die Gestaltung unserer Individualität, unseres Seins beeinflusst, muss notwendigerweise Angst einflößen. Die Angst ist nichts anderes als die ungenügende Kenntnis der Verbindung (der Übereinstimmung), die zwischen den beiden wichtigsten Prinzipien des Lebens besteht: negativ und positiv.
Wenn das Negative die Lage des Positiven nicht kennt und nicht versteht, erscheint die Angst auf der Seite des Negativen. Selbst wenn wir ein positives Temperament besitzen, gibt es Augenblicke, wo wir ängstlich sind, infolge von Missverständnissen oder von falschen Vorstellungen. Da das eine ganz natürliche Sache ist, haben auch wir Ängste gehabt. Im Bewusstsein, dass eine solche Sache existiert, haben wir uns an die Arbeit gemacht, stufenweise die Quelle, den Grund der Angst, zu untersuchen.
Sie kennenzulernen bedeutet, den Weg zu finden, um sie zu überwinden, bis wir schließlich dazu gelangen, sie zu meistern, indem wir die beiden entgegengesetzten Kräfte der Natur vereinigen.
Wir haben auch festgestellt, dass bei allen anderen Menschen die Angst ebenso groß war wie bei uns selber. Und wir suchten den Grund der Angst herauszufinden, herauszubekommen wie und woher sie auf uns gekommen ist, in der Absicht, die Lösung des Problems „Angst" zu finden.
Von Anfang an bemerkten wir beim Studium der Geschehnisse des täglichen Lebens, dass die Furcht durch das Gesetz der Suggestion erscheint und sich verbreitet.
Der ursprüngliche Sinn von Furcht ist, den Geist in Bewegung, ihn zum Überlegen und zum Nachdenken anzuregen, um die angsteinflößende Situation besser zu bewältigen. Aber wir mussten feststellen, dass der durchschnittliche Geist nicht nachdenkt, er verhält sich nur rezeptiv, er nimmt nur passiv auf und an. Seine Gedanken sind nicht Früchte seines eigenen Denkens, sie wurden ihm suggeriert. Wenn die Suggestionen der Furcht ständig wiederholt werden, findet sich der Mensch schließlich mit der Tatsache der Furcht ab.
Eine andere Frage, die sich uns in diesem Zusammenhang stellte, war: Ist die Furcht physischer oder geistiger Natur?
Es war Frühling, Ferienzeit, und wir waren gerade zwölf Jahre alt. Wir wollten eine befreundete Gemeinde besuchen, die an einem mehrere Tagesreisen entfernten Ort lebte. Diese Strecke wollten wir ganz alleine und zu Fuß zurücklegen.
Während des ganzen Tages wanderten wir und legten uns, bei Einbruch der Nacht, am Rande des Weges nieder, um uns auszuruhen. Am folgenden Morgen machten wir uns sehr früh, schon vor Sonnenaufgang, wieder auf den Weg. Nach 8 oder 9 Tagen wurden die Berge höher und das Wetter war ziemlich kalt, und mehr und mehr machte sich die Ermüdung bemerkbar.
Langsam machte sich auch in uns der Zweifel breit, ob wir noch auf dem rechten Wege seien. Es gab ja so viele Wege und Kreuzwege und keiner hatte einen Wegweiser. Welchen sollten wir einschlagen? Der eine führte uns zu weit nach Norden, der andere zu weit nach Osten. Was würde geschehen, wenn wir uns in der Richtung täuschen sollten? Würden wir wieder nach Hause zurückfinden?
War das nun Furcht? Nach Hause konnten wir nicht und so setzten wir ganz einfach unseren Weg fort, ohne uns zu kümmern, ob das nun der Richtige sei oder nicht. Wenn es der falsche Weg sein sollte, nun wohl, in diesem Falle bekämen wir etwas zu sehen, was wir bisher noch nie gesehen hatten. Wir sind also immer weiter marschiert und tatsächlich, es war der richtige Weg.
Bei unserer Ankunft wurden wir von den Menschen in der Gemeinschaft freundlich aufgenommen. Wir übergaben unsere Gastgeschenke und waren froh, wieder mit einem Dach über dem Kopf einschlafen zu können. Am folgenden Tag mussten wir sehr früh, noch bei Dunkelheit, aufstehen. Als wir uns zu einer kleinen Bucht begaben, sahen wir dort Leute in einem Fluss baden. Es war das erste Mal, dass wir in dieser Jahreszeit jemanden im Freien baden sahen, denn es war noch außergewöhnlich kalt. Dazu wehte ein ziemlich heftiger Wind. Trotzdem zog jedermann seine Kleider aus und sprang ins Wasser, anscheinend ohne sich über mögliche Folgen Gedanken zu machen. Wir standen am Ufer, schauten ins Wasser, betrachteten die Leute und fragten uns, ob man es wirklich wagen durfte, so ohne Weiteres in den Fluss zu tauchen.
Wir haben niemals Gewässer geliebt, deren Tiefe uns nicht bekannt war. Von Natur aus waren wir vorsichtig, sogar ziemlich bedächtig, und nun stellte sich die Frage, ob wir es auch wagen sollten.
Dieser Körper, der seit unserer frühsten Kindheit so gebrechlich gewesen war und der jetzt gerade im Begriff war zu erstarken, durfte dieser Körper es wagen, sich ins eisigkalte Wasser zu stürzen?
Dann sagten wir uns: Weshalb es nicht zuerst mit der Hand versuchen? Wie es die Philosophie lehrt: Wenn es für die Hand zu kalt ist, dann stürze nicht den ganzen Körper hinein. Endlich dachten wir, dass die Füße die empfindlichste Stelle des Körpers seien und dass die Hand vielleicht nicht die Intelligenz hätte, uns genau zu informieren. Versuchen wir es also zuerst mit nackten Füßen.
Da tauchte noch eine weitere Frage auf: Was, wenn wir durch das kalte Wasser krank würden? In uns entbrannte so ein Streit zwischen Wagemut und Vermeidung, zwischen für und wider.
Wenn es anderen möglich war, sich zu dieser Jahreszeit und zu dieser Tageszeit in den Fluss zu stürzen, so war das doch auch uns möglich. Und da sie es tun konnten, mussten sie auch die Wirkung kennen. Zweifellos mussten sie es schon öfters getan haben, aber zweifellos müssen auch sie es irgendwann ein erstes Mal gewagt haben.
Wenn sie es tun konnten, nun, keine Bedenken: hinein ins Wasser, mein Körper! Es kann sein, dass es in mir noch Intelligenzen gibt, welche sich einbilden, dass mein Körper die Kälte des Wassers und des Windes, der darüber hin weht, nicht vertragen werde. Nun, je schneller diese Intelligenzen, die Gestalt und die Energien, die diesen materiellen (stofflichen) Körper ausmachen, verschwinden, desto besser. Denn, solange die Furcht in uns herrscht, solange wir sie kennen und in uns verbleiben lassen, solange wird es uns unmöglich sein, das Leben zu meistern. So stellt sich nun die Frage: jetzt oder nie!
Wir zogen also unsere Kleider aus und unser Körper tauchte in seiner ganzen Größe ins Wasser. Das war ein Schock! Es war ein fürchterlicher Schock bis in die kleinsten Körperteile, aber von verhältnismäßig kurzer Dauer. Alle Energien unseres Körpers wurden total erschüttert, und für einen Augenblick nur war es, als ob jede Möglichkeit zu denken verschwunden, erloschen sei, als ob alle unsere Gedanken sich verflüchtigt hätten.
Unser Körper steckte in diesem kalten Wasser und über unserem Kopfe wehte der eiskalte Wind. Das Wasser war tiefer, als wir angenommen hatten, es reichte uns bis ans Kinn. Und nun, was sahen wir! Unsere Gefährten tauchten von Zeit zu Zeit unter, um nach einigen Augenblicken wieder zu erscheinen. Natürlich sagten wir uns: Weshalb könnten wir das nicht auch tun? Bestimmt könnten wir unseren Kopf unter Wasser halten, so oft wir es die anderen tun sehen. Und so machten wir es auch. Dann aber erwartete uns eine neue Überraschung! Als wir aus dem Wasser stiegen, stellten wir fest, dass da nirgends ein Tuch vorhanden war, um sich abzutrocknen. Wir schauten uns um und sahen, wie die anderen ihren Körper eifrig mit den Händen abrieben und erst, wenn sie trocken waren, ihre Kleidungsstücke anzogen. Es war just bei Sonnenaufgang. Wir trockneten uns so schnell wir konnten und fühlten uns gut erwärmt. Es war, als breite sich die Hitze bis in die äußersten Teile unserer Glieder aus, und wenn es in der Welt etwas im Feuer stehendes gab, so war es unser Körper, welcher von der Glut eines Hochofens aufgezehrt zu werden schien. Dessen waren wir uns bewusst, aber sonst etwas zu denken, das war uns unmöglich. Wir wären nicht imstande gewesen, uns von irgendetwas anderem eine Vorstellung zu machen!
Wir machten uns über die möglichen Folgen nicht den geringsten Gedanken. Am Abend machten sich alle auf zu einem langen Marsch, der bis Mitternacht dauerte.
Am folgenden Tag sind wir wiederum sehr früh aufgestanden, haben wieder im Fluss gebadet, und anschließend auch wieder eine große Wegstrecke zu Fuß zurückgelegt. Von Zeit zu Zeit tauschten wir untereinander einige Worte aus. Aber, so sonderbar es auch erscheinen mag, wir konnten absolut nicht denken. Und weil uns nichts anhielt, zu essen und zu trinken und unsere Körper immer noch im Feuer zu sein schienen, so nahmen wir nichts zu uns.
Was das alles zu bedeuten hatte, das spürten wir erst am vierten Tag. Da war es uns, als würden alle Teile, alle Gewebe unseres Körpers in einen Zustand größter Seelenruhe und tiefsten Friedens versetzt. Wir begannen wieder zu denken und wir stellten fest, dass DIE FURCHT BESIEGT WAR!
Von diesem Tage an haben wir es gefühlt: alle Furcht war vergangen. Egal, was uns zustößt, welche Prüfung der Körper durch Schmerz oder Leid erfährt oder sogar der Tod uns erwartet. Genau wie im kalten Fluss gibt es nur das eine Gefühl, die Gewissheit, dass es im Leben nichts Größeres geben kann, als das einfache „Ich bin". Indem wir unser „Sein" frei gemacht und gemeistert haben, kann dieser Zustand nichts anderes bedeuten als Leben. Alles, mit dem wir in Berührung kommen, ist Leben. Sei es ein Unfall oder eine Krankheit; dieser Körper fürchtet nichts. „Die Furcht ist besiegt!" Die Furcht ist besiegt, selbst angesichts einer drohenden Gefahr, selbst wenn der Gedanke an Gefahr aufkommt oder wenn der Tod diesen Körper bedroht. Wenn wir ganz einfach in unserem eigenen Zustand des Bewusstseins verbleiben können, mit festem Willen, mit Bestimmtheit, mit Kraft, dann wissen wir: die Angst ist besiegt. Und selbst wenn der Gedanke des Todes vor unseren Augen erschiene und wir ihn zu durchschreiten hätten, dann hieße dies: die letzte Phase der Angst besiegen, den Tod selbst besiegen.
Eine Geschichte von Dr. O. Z. Hanish. Aus dem Französischen von R. Bürki, bearbeitet von Jens Trautwein.
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