Rohkost

Mazdaznan ist allumfassend, freiheitlich und unparteiisch und kann deshalb für keine Einseitigkeit irgendwelcher Art eintreten, also auch nicht für ausschließliche Rohkost. Wenn Jahreszeit und Klima uns Obst und Gemüse in Fülle darbieten, greifen wir ganz von selbst mehr zu Rohkost, und wenn wir Vorteile daraus ziehen können aus Gesundheits- oder Sparsamkeitsgründen, ist es selbstverständlich, dass wir Rohkost bevorzugen. Besonders wer an Jahren vorgerückt ist und die verflossene Jugendzeit zurücksehnt, kann kein besseres Mittel zur Verwirklichung seiner Sehnsucht finden als Rohkost – überhaupt und ganz besonders im Frühjahr.

Rohkost ist an der Tagesordnung in allen Monaten ohne „R“. Aber schon im April öffnet die Natur ihre Küche und beginnt, die frisch bereiteten Segnungen des Himmels und der Erde mit vollen Händen als Rohkost auszuteilen. Ab Mai sollte man möglichst ganz vom Kochen absehen und sich nur solche Gerichte bereiten, die keiner Feuerzubereitung bedürfen. Deshalb kann man sich doch ein schönes Mahl richten, indem man alles schneidet, stiftelt, schabt, reibt oder sonst wie zerkleinert und mit grünen Kräutern ausschmückt, sodass auch das Auge auf seine Rechnung kommt.

Zur Rohkost eignen sich vielerlei Gemüse, wie Spargel, Erbsen, Rhabarber, Karotte, Tarowurzel, weiße und rote Rübe, Sauerampfer, Blumenkohl, Wirsingkohl, Zwiebel, weißer und schwarzer Rettich, Radieschen, Kopfsalat, Tomate, Löwenzahn, Rapünzchen, Bleich- und Knollen-Sellerie, Spinat, Wasserkresse, Gurke, Butterbohne, Lauch, Schwarzwurzel, milchiger Süßmais und manches andere. Man würzt mit Fenchel, Kümmel, Anis, Zitwersamen, Petersilie, frischen Blüten oder Schnittlauch, aber nie mit Salz, und richtet alles als Salat an, wobei das Öl durch süße Sahne ersetzt wird.

Je wärmer die Jahreszeit wird, umso viel besser bereiten die Sonnenstrahlen die Speisen zu als der Herd, und bis in den Oktober bietet die Natur frisches Obst und Gemüse dar, das den allmählich abnehmenden Bedarf an Rohkost deckt. Bei feuchtkalter Witterung und wenn die Nächte kühl und die Morgen kalt und rau werden, kehrt man allmählich zum Kochherd zurück, vollzieht aber den Übergang nicht zu rasch.

Wir zielen zwar darauf, dass in der warmen Jahreszeit unser Speisezettel durchschnittlich 85 Prozent Rohkost enthält, jedoch lässt sich dafür kein starrer Plan aufstellen. Jeder muss dabei seiner individuellen Eingebung folgen und auf seine augenblicklichen Bedürfnisse und Verhältnisse Rücksicht nehmen. Das Kind bedarf einer anderen Ernährung als der Erwachsene, der Gesunde einer anderen als der Kranke, der Muskelarbeiter einer anderen als der Geistesarbeiter, Künstler und Schriftsteller, der Elektrische einer anderen als der Magnetische. Der eine liebt es, etwas roh zu essen, was dem anderen nur gebacken oder gedünstet bekommt. Den Ausschlag gibt immer, dass die Speisen durch wissenschaftliche Zubereitung und Zusammenstellung Vitaminkräfte im Körper auslösen, sodass sich Saline bilden, die die Nerven und die Drüsen zu erweiterter Tätigkeit anregen. Der Muskelarbeiter, der bei seiner schweren Arbeit etwas Substantielles braucht, wird auch im Sommer gern zu seinem guten, gebackenen Vollkornbrot greifen, auch wenn er durch sonnengebackenes Brot befriedigt werden könnte, und wird dabei gut zurecht kommen.

Die Zubereitung durch Backen, Dünsten, Braten, Kochen tötet zwar nicht das in der Pflanze eingekörperte Wachstumsprinzip der Natur, aber doch werden dadurch die in der unverarbeiteten Frucht enthaltenen Salze und Säuren so stark verändert, dass sie je nach der Art der Zubereitung bis zu 50 Prozent und mehr an Wert verlieren können. Der Körper braucht also größere Mengen, um zufriedengestellt zu werden, und das bedeutet eine beträchtliche Mehrarbeit für die Verdauungsorgane, sodass ihre Kraft mit der Zeit erlahmt, und das umso früher, je weniger Rohkost und je mehr feuerbereitete Nahrung man zu sich nimmt, und ohne dass man es sich recht gewahr wird, stellen sich Schleimhautentzündungen, Verschleimung, Verstopfung, Blutkrankheiten und andere Krankheitserscheinungen ein, die man aber leicht beseitigen könnte, wenn man der Rohkost den Vorzug gäbe.

Sobald wir der Rohkost in unserem Speisezettel den ihr gebührenden Anteil einräumen, werden wir uns sehr bald einer körperlichen und geistigen Frische, Lebendigkeit und Leistungsfähigkeit gewahr, wie wir sie bis dahin noch nicht kannten. Das erklärt sich einfach dadurch, dass Kräfte, die bisher für die Verdauungsarbeit aufgebraucht wurden, für Aufbauarbeit frei geworden sind. Bei Rohkost vermeiden wir auch ganz von selbst schwere Gerichte, wie schweres Brot, schweren Käse, schweres Öl, schwere Tunken, Nüsse, gebratene Eier und dergleichen mehr und haben auch kein Verlangen nach Kochsalz, Konserven, Süßigkeiten und Ähnlichem. Wir lernen auch sehr bald, die richtige Auswahl für uns zu treffen und nur solche Mengen zu uns zu nehmen, die uns nicht überladen und uns doch die nötige Kraft und Frische bewahren. Wir laufen überhaupt kaum Gefahr, uns zu überessen. Denn wir müssen von selbst alles gründlicher kauen, wodurch den Verdauungsorganen die Arbeit erleichtert und das Gefühl der Sättigung rascher geweckt wird; ja, wir lernen durch die Rohkost eigentlich erst richtig kauen. Nach und nach stellen wir fest, dass wir die Nahrungsmengen um ein Drittel oder gar um die Hälfte verringert, also auch einen ökonomischen Vorteil durch die Rohkost erzielt haben.

Wer in der Jugend das Glück hatte, seiner Eingebung und seinem Temperament folgen zu dürfen, also sich einigermaßen naturgemäß ernährt hat, der wird leichter als andere den Weg zur Rohkost finden, rasch und sicher die richtige Auswahl treffen und auch erkennen, dass er sich am besten und sparsamsten mit solchen Nahrungsmitteln befriedigt, die möglichst viel Sonnenenergie in sich aufgespeichert haben. Aber es ziemt jedem selbständig denkenden und nach Fortschritt strebenden Menschen, mit der Rohkost wenigstens unvoreingenommen einen Versuch zu machen, und man wird sich dabei überzeugen, dass man sich dabei in jeder Beziehung verbessert, vor allem die Reizungen des verwilderten Appetits los wird und seinen Geschmackssinn verfeinert, sodass auch ein erweitertes und höheres Denken möglich wird.

Von Dr. O. Z. A. Hanish
Auszüge aus der Mazdaznan-Ernährungskunde
Foto: Adobe Stock © Esther Hildebrandt


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