Die Kunst des Betens

„Vor Jahren kam eine Frau in unseren Kursus über Atem- und Gesundheitspflege, weil es da „Ga-Llama“ gäbe, das von großer Hilfe gegen nervöse Kopfschmerzen sei, wie sie von ihren Freunden gehört hatte, und bat um eine entsprechende Dosis „Ga-Llama“. Als Antwort gaben wir ihr eine Freikarte zu unseren öffentlichen Vorträgen.

Sie war zwar sehr erstaunt darüber, nahm aber die Karte und besuchte den sechsstündigen Kursus. Als der Kurs zu Ende war, war es ihr klar geworden, dass der allzu reichliche Genuss von Erdbeeren ihre Kopfschmerzen verursacht hatte. Als wir ihr dann sagten, sie dürfe überhaupt keine Erdbeeren essen und müsse ihre Ernährungsweise völlig umstellen, bis ihr Magen wieder ganz in Ordnung sei, verzichtete sie auf alle Diätordnung und alle Übungen und befasste sich nur noch mit „Prana“.

Nach längerer Zeit begegnete sie uns wieder und ging an Krücken. Als sie uns erkannte, sagte sie: „Wäre ich nur bei meinen Übungen und bei der Mazdaznan-Diät geblieben!“ Man sagt zwar: „Die Zeit tut Wunder“; trotzdem aber müssen Leiden und Wunden behandelt werden, damit die Zeit verkürzt werde. Wir dürfen nicht aufhören mit unseren Übungen; dann wird uns Erfolg, der unsere höchsten Erwartungen übertrifft.“

Bei den Atem- und Gebetsübungen müssen wir der Haltung des Rumpfes die größte Aufmerksamkeit schenken. Halten wir ihn gerade und aufrecht, so fällt uns das rhythmische Atmen und das lange Ausatmen leicht, weil die Brust hochgestellt und ausgedehnt bleibt, während der Unterleib nach dem Magen und Sonnengeflecht zu eingezogen wird und die Rippen sich seitlich ausdehnen. Dann stärkt sich das Rückgrat, die Muskeln straffen sich und die Gelenke werden beweglicher.

Übung:

Hebe mehrmals am Tage, wenigstens aber früh morgens und abends vor dem Niederlegen, Hände und Arme hoch, wobei sich die Brust und der Rumpf von selbst heben, und sprich in dieser Stellung einen Spruch oder ein Gebet, singe ein Lied, summe eine Melodie oder zähle ausatmend bis 10, 20, 30 oder mehr, ohne dich jedoch anzustrengen oder anzuspannen.

Bete und arbeite! Dass wir arbeiten müssen um der Selbsterhaltung willen, ist jedermann mehr oder weniger klar. Dass wir aber auch beten müssen und wozu, das hat die Menschheit als Ganzes vergessen. Gebete haben den Zweck, den Menschen vermittels des Atems in Harmonie mit der Natur zu halten, sodass sich sein Körperwesen vervollkommnet, Herz und Gesinn sich erheben und ihm dadurch seine höhere Natur zum Bewusstsein kommt.

Alle Gebete sind Ausatmungen und sollten auf eine Ausatmung oder „ohne Unterlass” gesprochen werden, wie es schon der Heiland den Seinen nahe gelegt und gezeigt hat, indem er ihnen das „Vaterunser” auf eine Ausatmung vorsprach und sie ermahnte, es ebenso zu machen. Durch solches Beten auf den Atem entlastet sich die Lunge von den unbrauchbaren Rückständen der eingeatmeten Luft und kann dem Blut mit der Einatmung mehr brauchbare Stoffe zuführen, sodass sich das venöse Blut vollkommener in arterielles Blut verwandelt, der Mensch also Gelegenheit bekommt, etwas Besseres aus sich zu machen.

Wir sollten regelmäßig tagsüber alle 3½ Stunden für 6 Minuten unsere Ausatmungsgebete sprechen, indem wir ganz gelassen und entspannt ausatmen, und zwar laut, leise, flüsternd oder murmelnd, je nachdem, wie es die Verhältnisse gestatten, sodass es unsere Umgebung gar nicht bemerken braucht.

Die Hauptsache ist, dass wir lang ausatmen, stille halten, weiter ausatmen, wieder stille halten und wieder ausatmen, bis wir wirklich nicht weiter ausatmen können. Dann atmen wir tief aufholend wieder ein und verlängern die nächste Ausatmung noch mehr.

Um der Weiterförderung durch den Gedanken teilhaftig zu werden, darum beten wir, nicht aber um der Worte willen oder weil es gang und gebe ist oder weil es einer Gewohnheit entspricht oder weil wir meinen, der Gottheit zu dienen. Die Gebete sollen den uns darin in Erinnerung gerufenen Gedanken ausdrücken, sind also das Bindemittel zwischen Gedanken und Tat oder Verwirklichung des Gedankens mit Hilfe der Körperlichkeit.

Nach Mazdaznan ist ein Gebet auch kein Bittgesuch (was soll Gott von uns denken, wenn wir ihn immer nur anbetteln!), sondern der Ausdruck eines tief inneren Verlangens, das zu verwirklichen, was in unserem Gedanken schon vorhanden ist. Das Gebet ist also nicht nur eine Form oder Formel. Wenn es auch nach außen eine Form annimmt oder zu einer Formel wird, so entspringt es doch unserem inneren Wesen, das beständig nach etwas Besserem trachtet.

Solange wir noch auf den unteren Stufen der Entwicklung stehen, sind wir uns der eigenen Schritte nicht sicher und zaudern deshalb, brauchen daher Gebetsformeln, die es uns erleichtern, zu unserem eigenen Wesen zurückzufinden.

Die Gebete sind also nach Mazdaznan Konzentrationsübungen und wurden von unseren Vorfahren zu einer wissenschaftlichen Kunst entwickelt. Die Mazdaznan-Gebete haben je nach ihrem Rhythmus und ihrer Länge verschiedene Wirkungen und verfolgen deshalb je einen besonderen Zweck. Manche wirken auf das Blut, manche auf die Nerven, manche auf die Drüsen, manche gleichen aus, manche beseitigen sogar organische Störungen.

Dass wir beten, braucht niemand zu sehen. Schon der Heiland warnte seine Jünger: „Wenn ihr betet, dann betet nicht wie die Pharisäer, die an den Ecken herumstehen, sondern geht in euer Kämmerlein!” Betet unauffällig, insgeheim, auf euch selbst zurückgezogen! In der Stille, im Kämmerlein, abgeschlossen von der Welt, sprich mit deinem Selbst!

Das Gebet moduliert und modifiziert den Atem-Rhythmus und weckt dadurch alle Intelligenzen und Energien des Körpers. Das gelingt umso leichter, wenn wir unsere Gebete entspannt, gelassen und ergeben sprechen und die Worte wie aus einem Guss herausströmen lassen. Jedes Gebet wiederholen wir dreimal in verschiedener Tonstärke, etwa einmal leise, flüsternd, einmal etwas lauter und einmal kräftig im Grundton, und zwar möglichst je auf eine Ausatmung. Nach einiger Übung versuchen wir, dasselbe Gebet zwei- und später sogar dreimal auf eine Ausatmung zu sprechen, ohne uns aber dabei anzustrengen oder zu spannen. Lange Gebete teilen wir uns ein und entscheiden selbst, wie lange wir auf eine Ausatmung sprechen sollen.

Das Geheimnis der Gebetskunst liegt im Rhythmus, in der Modulation und Modifikation des Atems beim Gebet. Deshalb müssen alle Gebete lebendig, fast dramatisch, rhythmisch, wohltönend und gedankenvoll gesprochen werden. Dann beleben sie und verhelfen uns zu freiem Denken.

Von Dr. O. Z. Hanish. Auszüge aus „Manthra“.
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